Seit der Auffindung der ersten Frauenfiguren der Altsteinzeit faszinieren diese nicht nur allgemein an Kunst interessierte
Menschen, sondern auch die Fachwelt. Die Deutungsmöglichkeiten sind vielfältig, doch allein das Rohmaterial, die Gestaltung
und die Fundsituation der über ganz Europa verbreiteten Figuren selbst sind nach wissenschaftlichen Kriterien erforschbar.
Mitarbeiter*innen des Naturhistorischen Museums sind dabei, im Austausch mit Prähistoriker*innen anderer Institutionen, das
Wissen über diese Figuren zu vermehren. Mit dem Versuch einer allumfassenden Deutung stößt man allerdings an die Grenzen des
Erforschbaren.
Ansprechperson: Dr. Walpurga Antl-Weiser
Naturwissenschaftliche Analysen
Analysen in der Mitte der 1950er Jahre ergaben Spuren eines Überzuges aus Rötel auf der gesamten Oberfläche der Venus von
Willendorf. Rötel scheint als Symbolfarbe mit den Venusstatuetten europaweit verbunden gewesen zu sein, auch wenn es zahlreiche
Fundsituationen ohne Verwendung von Rötel gibt.
Der Herstellungsvorgang der Venus von Willendorf kann heute nicht mehr zur Gänze rekonstruiert werden, aber bei einer Analyse
der Oberfläche im Jahr 2008 waren noch deutlich die Spuren der letzten Arbeitsschritte zu erkennen.
Alexander Binsteiner, Godfried Wessely und Antonin Přychistal verglichen im Jahr 2007 den Stein der Venus mit Oolith aus verschiedenen
Vorkommen. Die besten Übereinstimmungen mit dem Rohmaterial unserer Venus zeigte ein Oolith aus der Gegend von Brünn. Im Jahr
2013 wurde die Venus von Willendorf im Micro CT Labor des anthropologischen Instituts der Universität Wien (Leitung Univ.
Prof. Dr. Gerhard Weber) untersucht. Die dabei zum Vorschein gekommenen Gesteinsstrukturen lassen nun noch genauere Vergleiche
des Steins mit anderen Rohmaterialproben zu.
Ikonologische Analysen
Figuren vom Typ der Venus von Willendorf sind von Frankreich bis Russland verbreitet. Stilistisch steht die Venus von Willendorf
den osteuropäischen Venusfiguren am Nächsten. Die meisten russischen Frauenfiguren stellen reife Frauen mit großem Bauch und
großen Brüsten dar. Viele von ihnen tragen Bänder auf ihrem Körper. Der Kopf ist nach vorne geneigt wie bei der Venus von
Willendorf. Mit ihrer halbsitzenden Haltung entspricht die Venus von Willendorf den Figuren von Gagarino. Die Darstellung
des Schmucks – die Venus von Willendorf trägt Armreife – hat sie mit den Figuren aus Kostenki gemeinsam. Ebenso wie bei der
Venus von Lespugue liegen bei der Venus von Willendorf die Arme über der Brust.
Erhebliche Unterschiede gibt es zu den sibirischen Frauenplastiken, bei denen häufig Gesichter und Bekleidung dargestellt
sind, und zu den stark hypertrophierten Körpern der italienischen Figuren aus den Balzi Rossi-Höhlen. Es gibt aber auch abstrahierte
Darstellungen in denen sowohl weibliche als auch männliche Symbolik oder eine Verbindung von beiden zu erkennen ist. Modellierte
Gesichter wie die Frauenköpfe aus Brassempouy in Frankreich und Dolní Věstonice in Mähren unterstreichen, dass die gesichtslosen
Figuren eine ganz bestimmte Aussage repräsentieren. Trotz der Unterschiede in der Ausführung sind die Frauendarstellungen
des mittleren Jungpaläolithikums kein willkürliches Sammelsurium. Es gibt über ganz Europa verbreitete Phänomene, aber auch
regionale Varianten.
Deutung der Venus
Für die Menschen vor ca. 29.500 Jahren hatten die Figuren eine ganz bestimmte Bedeutung. Wie die weite Verbreitung nahelegt,
waren sie Zeichen, die überregional verstanden wurden. „Venus“ werden diese Frauendarstellungen von der Forschung heute noch
genannt, weil 1864 die erste Figur als „Venus impudique“ (=unkeusche Venus) bezeichnet worden war. Durch die genaue Darstellung
der Geschlechtsmerkmale brachte man sie bald mit Fruchtbarkeit in Zusammenhang.
Hinter den Venusfiguren stand offensichtlich eine ganz bestimmte Vorstellung, die für die Menschen der Altsteinzeit durch
das Bildnis einer Frau ausgedrückt wurde. Der Schöpfer bzw. die Schöpferin der Venus von Willendorf stellte keine fettleibige
Frau um ihrer selbst willen dar, sondern hat das, was er oder sie darstellen wollte, als fettleibige Frau geformt. Welche
Gedanken, Wünsche und Vorstellungen einst mit den Venusstatuetten verbunden waren, wissen wir nicht. Die Häufigkeit der Darstellung
sagt nichts über die Rolle der Frau in der Altsteinzeit, solange wir die genaue Bedeutung der Figuren nicht kennen.